Zur Lage der ukrainischen Germanistik

Der mittlerweile einjährige Krieg auf dem Boden der Ukraine hat eklatante Auswirkungen auf das Leben und die Lebenseinstellungen nicht nur der ukrainischen Germanist*innen. Die ukrainische Germanistik und ihre Fachbereiche, wie die Übersetzungswissenschaften oder die Kulturstudien, nehmen jedoch in der aktuellen Situation eine Sonderrolle ein. Sie sind tragend für die deutsch-ukrainischen Beziehungen, da es ihre Aufgabe ist, sprachliches und kulturelles Wissen zu systematisieren, zu bewahren und eine Brücke zwischen Kulturen und Gesellschaften zur Verfügung zu stellen. Damit fällt Germanist*innen derzeit aber auch eine besondere Verantwortung zu, die einerseits als Chance verstanden werden kann, jedoch gleichzeitig als Herausforderung und Barriere wirkt. Als Chance, da sie durch ihr Wissen, ihre Kompetenzen und Erfahrungen in vielen Bereichen – sei es Sprachunterricht oder die kulturelle Vermittlung zwischen Deutschen und Ukrainer*innen – in der aktuellen Lage etwas Substantielles beitragen können. – Gleichzeitig ist genau dieser Anspruch auch problematisch, da dadurch Mehrfachbelastungen entstehen, die zu einem Spannungsverhältnis führen können und damit zu Überforderung, Schuldgefühlen oder Loyalitätskonflikten. Eine Herausforderung ist es auch dann, wenn z. B. durch die Sorge um Familie und Freunde Forschungsvorhaben und die wissenschaftliche Arbeit in den Hintergrund rücken müssen.

Viele Studierende und Hochschullehrende sind entweder in der Armee oder geflohen – innerhalb der Ukraine oder in andere Länder. Studium und Lehre können daher in vielen Regionen fast ausschließlich online stattfinden. Nach dem ersten Schock arbeiten manche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vielleicht wieder an ihren Projekten. Einige Studierende und Wissenschaftlerinnen konnten Stipendien in den deutschsprachigen Ländern erhalten und/oder arbeiten als Deutschlehrkräfte an Schulen und Universitäten im amtlich deutschsprachigen Raum. Viele engagieren sich nebenbei ehrenamtlich (ob in der Ukraine oder in Deutschland), um ihren ukrainischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu helfen und ihr Land zu unterstützen. 

Vor diesem Hintergrund stellten sich die Teilnehmenden des Symposiums die Frage, welche Auswirkungen die aktuelle Situation auf die Germanistik hat, was sich geändert hat und welche Linien zum Glück weitergeführt wurden und hoffentlich auch zukünftig bestehen werden können: Welche Auswirkungen auf die Qualität und Quantität von Lehre und Forschung lassen sich beispielsweise feststellen? Welche infrastrukturellen Probleme gibt es? Wie steht es um die finanzielle Absicherung von Stellen und Forschung?

Aus den Diskussionen haben sich folgende Feststellungen zur aktuellen Lage der Germanistik in der Ukraine ergeben:

In Bezug auf Forschung:

  • Motivation und Konzentration für die Konzeption und Durchführung von Forschungsprojekten und -vorhaben zu finden ist eine große Herausforderung
  • Zugang zu Literatur: Durch die Einschränkung von Öffnungszeiten der Bibliotheken oder womöglich gänzlich nicht mehr zugängliche Bibliotheken sind ukrainische Wissenschaftler*innen in ihrer Forschung eingeschränkt. Zudem sind Reisen in die nationalen Bibliotheken kaum möglich und Online-Zugänge teuer und oft nicht verfügbar.
  • Entstehen neuer Aufgaben und Forschungsfelder für Germanist*innen, u. a.:
    • Unterricht geflüchteter Mitbürger*innen → Mehrfachbelastung bei Flucht in deutschsprachige Länder, wenig Zeit für Forschung
    • Erforschung dieser Spracherwerbskontexte (denn DaF ist nicht das gleiche wie DaZ) → Änderungen der Forschungsschwerpunkte, was die Einarbeitung in neue Themenbereiche und Forschungsmethoden notwendig macht
  • Aufrechterhaltung von Kriterien, mit denen ukrainische Wissenschaftler*innen evaluiert werden, trotz widriger Umstände, z. B. Teilnahme an internationalen Konferenzen, Peer-reviewed Artikel (Skopus), internationale Projekte
  • hohe finanzielle Belastungen durch erhöhte Lebenskosten, bei gleichzeitig sinkenden Löhnen → meist kostenpflichtige Publikationen in Ukraine sind kaum noch finanzierbar

In Bezug auf Hochschullehre:

  • Demotivation und psychisch-emotionale Probleme Studierender und Dozierender behindern Lehren und Lernen
  • an fast allen Universitäten ist durch die Kriegssituation und die Dispersion der Lehrenden und Studierenden ausschließlich Online-Lehre möglich
    • dennoch oft kaum synchroner Unterricht möglich (durch Luftalarme, Stromausfälle, andere Tätigkeiten etc.)
    • bei Online-Prüfungen sind Standards und Vergleichbarkeit kaum zu garantieren
  • die Situation, insbesondere männlicher Studierender, ist herausfordernd, u. a. da keine Studienaufenthalte in deutschsprachigen Ländern möglich sind → führt auch zu starken Ungleichheiten in Studienbedingungen
  • bei Flucht oft parallele Arbeit von Lehrenden und Studierenden im Aufnahmeland, z. B. in Deutschland als DaZ-Lehrkräfte und gleichzeitig Arbeit als Dozentin, bzw. gleichzeitiges Vollzeitstudium, an ukrainischen Universitäten
  • in der Ukraine müssen Dozierende oft zusätzliche Verantwortung für binnengeflüchtete Studierende übernehmen, deren Universitäten z. T. nicht mehr bestehen (Besetzung der Gebiete)
  • die grundsätzlich schon hohe Lehrbelastung der Lehrenden wird durch Kündigungen von Kolleg*innen nochmals größer
  • aufgrund sinkender Studierendenzahlen und gekürzter Mittel, werden (ehemals) große Fachbereiche zusammengelegt (z. B. Germanistik mit Anglistik oder Romanistik) -> Lehrende müssen plötzlich Anglistikseminare geben

Aus der Analyse der aktuellen Lage haben sich Vorschläge für Förderungen und Unterstützung ergeben, die in der Abschlusserklärung des Symposiums zusammengefasst wurden.