Lesung Mascha Kaléko: Blatt im Wind

Literarischer Höhepunkt des Symposiums war gleich am ersten Abend eine öffentliche Lesung zu Mascha Kaléko. Sie zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre Gedichtsammlung „Das lyrische Stenogrammheft“, das 1933 im Rowohlt-Verlag erschien und 1956 neu aufgelegt wurde, gilt heute als der erfolgreichste deutsche Lyrikband. Hermann Hesse, Thomas Mann und Martin Heidegger rühmten ihre Verse. Trotzdem fand man lange Zeit in Literatur-Lexika nur wenige Zeilen über sie. Erst um das Jahr 2000 wurde man aufmerksamer auf sie. 

In der Ukraine ist der Name Mascha Kaléko, die in ihren Gedichten mit scharfer Beobachtungsgabe und Ironie das Leben in Berlin der 1930er Jahre beschreibt, bisher noch nicht so bekannt. Im Exil, zu dem sie wegen ihrer jüdischen Abstammung gezwungen war, sind Flucht und Verlust der Heimat ihre Themen geworden. Vielleicht ist das ein Grund, warum die Gedichte Kalékos derzeit für Menschen, nicht nur aus der Ukraine, in beklemmender Weise wieder aktuell geworden sind. Es ist daher eine große Freude, dass eine Auswahl ihrer Gedichte von der Tagungs-Mitorganisatorin und derzeitigen Volkswagenstipendiatin Liliia Bezugla erstmalig ins Ukrainische übersetzt worden ist. 

Die zweisprachige Textsammlung, die 2022 im ukrainischen Verlag „Zeitglas“ erschien, wurde auf der Lesung vorgestellt. Frau Bezugla las die Gedichte in ukrainischer Sprache und die seit 2019 am Schauspiel Hannover tätige Viktoria Miknevich die deutschen Originaltexte. Dabei wurden die Gedichte nicht nur in beiden Sprachen vorgetragen, sondern auch das Leben der Autorin dazu in Beziehung gebracht. Moderiert wurde das literarische Gespräch von Dorothea Spaniel, das nachfolgend wiedergegeben wird.

Frage: Liebe Kollegin, als Germanistin und habilitierte Sprachwissenschaftlerin kennen wir Dich unter dem Namen Liliia Bezugla. Warum erschien das Buch unter dem Namen Liliia Sylina?

Antwort: Sylina ist mein Geburtsname. Ich habe ihn als Pseudonym behalten, weil ich bereits zu dichten begann, als ich noch nicht verheiratet war. Ich habe Gedichte auf Russisch geschrieben und bereits sechs Gedichtsammlungen veröffentlicht. Fünf davon sind im ukrainischen Verlag „Zeitglas“ erschienen. Dieser Verlag hat auch diese Gedichtsammlung von Mascha Kaléko mit meinen ukrainischen Übersetzungen herausgegeben. Ich danke dem Verlag sowie dem Inhaber der Urheberrechte der Deutschen Verlagsgesellschaft dtv für die Erlaubnis, Mascha Kalékos Gedichte in Übersetzungen zu veröffentlichen.

Frage: Wie bist Du auf die Gedichte von Mascha Kaléko aufmerksam geworden und warum hast Du Dich entschieden, diese ins Ukrainische zu übersetzen? War das eine bewusste Entscheidung?

Antwort: Ich bin mit dem Werk Mascha Kalékos bereits 2009 bekannt geworden, als ich vom Goethe-Institut eingeladen, in der Beurteilungskommission eines studentischen Wettbewerbs zu Gedichten Kalékos mitarbeitete. Ich habe damals einige Gedichte ins Russische übersetzt. Nach 2014 wuchs in mir der Wunsch, auf Ukrainisch zu schreiben. Um zu üben, beschloss ich 2019 Übersetzungen von Mascha Kaléko ins Ukrainische zu versuchen. Ich hatte dabei eine Vorahnung, dass etwas Unvermeidliches kommen sollte, aber ich wusste nicht, dass ihre Gedichte über Krieg und Asyl bald wieder aktuell werden und ich selbst einmal gezwungen sein würde, meine Heimat zu verlassen. Ich habe die Gedichte zur Übersetzung nicht nach irgendeinem System ausgewählt, sondern mir Kalékos Gedichtsammlungen durchgelesen, bis ein bestimmtes Gedicht in ukrainischer Sprache in mir nachhallte.

Ich möchte mit dem Gedicht Verse für keinen Psalter beginnen, dem heute jeder Ukrainer zustimmen würde:

Verse für keinen Psalter

Ich möcht in dieser Zeit nicht Herrgott sein

Und wohlbehütet hinter Wolken thronen,

Allwissend, daß die Bomben und Kanonen

Den roten Tod auf meine Söhne spein.

Wie peinlich, einen Engelschor zu lauschen,

Da Kinderweinen durch die Lande gellt.

Weiß Gott, ich möcht um alles in der Welt

Nicht mit dem Lieben Gott im Himmel tauschen.

Mir scheint, ein solcher Riesenapparat

Von Finsternis und Feuerwerk verpflichtet.

Hat Er damit ein Wunder wohl verrichtet,

Wie seinerzeit Er’s in Ägypten tat?

Lobet den Herrn, der schweigt! In solcher Zeit –

Vergib, o Hirt! – ist Schweigen ein Verbrechen.

Doch wie es scheint, ist Seine Heiligkeit

Auch für das frommste Lämmlein nicht zu sprechen.

Herr Zebaoth spaziert im Wolkenhain

Und schert sich einen Blitz, wie ich das finde.

Ich möcht in dieser Zeit nicht Herrgott sein.

Wie aber sag ich solches meinem Kinde?

Mascha Kaléko

Вірш не для Псалтиря

Я б не хотіла бути Богом у ці дні

І так спокійно в хмарах спочивати,

В той час як кулемети і гармати

Плюються смертю у моїх синів.

Хор янголят співає в небесах,

Коли внизу невтішно плачуть діти.

На місці будь-кого хотіла б бути,

Та не на місці Бога аж ніяк.

Такого ще не бачив білий світ –

Як творить Бог тих «феєрверків» зливу.

Невже він справді це вважає дивом,

На кшталт Колоса чи то пірамід?

Славімо ж Господа, який мовчить!

Мовчання зараз – все одно, що злочин

(Пастух простить). Святим Його не звіть.

Ягня – і те в це вірити не хоче.

Господь наспівує свої пісні

І з блискавками грає на хмарині.

Я б не хотіла бути Богом у ці дні.

Але ж як пояснити це дитині?

Mascha Kaléko wurde 1907 in Westgalizien in einer jüdischen Familie geboren. 1914 zog die Familie nach Deutschland und ab 1918 nach Berlin. Von ihrem Leben in den 20er Jahren in der Großstadt voller Umbrüche erzählt sie in dem 1933 geschriebenen Gedicht Interview mit mir selbst. 1945 schrieb sie ein Postscriptum zu diesem Gedicht. In den letzten Zeilen wird ausgedrückt, dass sich Geschichte wiederholt: Mascha ging während des Ersten Weltkriegs in Deutschland, der neuen Heimat, zur Schule und ihr Sohn während des Zweiten, allerdings nicht in Deutschland, sondern in den Vereinigten Staaten, wohin die Familie 1938 vor den Nationalsozialisten geflohen war. Die Sehnsucht nach der Heimat ist immer ein wichtiges Motiv im Werk von Mascha Kaléko geblieben, wie das Gedicht Fast ein Gebet zeigt.

Frage: Was kannst Du als Linguistin über den Stil von Mascha Kaléko sagen? Haben Dir Deine linguistischen Kenntnisse beim Übersetzen geholfen?

Antwort: Ja, sehr. Wenn ich ein Gedicht lese, analysiere ich es gleichzeitig. Ich bemerke alle stilistischen Mittel, Figuren, metrische Besonderheiten und beim Übersetzen versuche ich, sie möglichst vollständig wiederzugeben.

Mascha Kaléko ist eine Vertreterin der literarischen Strömung „Neue Sachlichkeit“. Diese ist von witziger, ironischer und sozialkritischer Beschreibung der Wirklichkeit durch Reportagenstil, aktuelle Themen, Konkretheit,traditionelle Metrik sowie Umgangssprache gekennzeichnet. Als „Gebrauchslyrik“, in Zeitungen veröffentlicht, beschrieb Kaléko wie ihre Schriftstellerkollegen die Alltagssorgen der Menschen in der Großstadt: von Arbeit, Geldsorgen, Wohnungsnot, Einsamkeit in Millionen von Menschen und Liebe. Viele Gedichte der zweiten Lebenshälfte beschäftigen sich wie Herbstabend mit den Jahreszeiten. Lieblingsmotive des Herbstes sind daher Regen und welke Blätter wie wir es auch auf dem Umschlag meines Lyrikbandes sehen können. Vielen Dank der Fotografin Natalia Belenko für dieses schöne Foto!    Mascha Kaléko nennt ihre Verse Quasi ein »Januskript«, geschrieben von einer Person mit zwei Gesichtern – einem lyrischen und einem ironischen. Eines von ironischen Gedichten ist das Gedicht Horoskop gefällig…?

Frage: Unter den berühmten Vertretern der von Dir angesprochenen Neuen Sachlichkeit ist Mascha Kaléko die einzige Frau. Was unterscheidet ihren Schreibstil? Das von Dir genannte ironische Element ist es nicht…

Antwort: Ja, sie wurde von der Kritik als „Tochter Tucholskys“, „Schwester von Ringelnatz“ und „Weiblicher Kästner“ betitelt. Aber im Gegensatz zu Kästner war sie nie moralisierend, sprach von „ich“, nicht „man“ und blieb selbstironisierend. 

Ich denke, es ist das lyrische Gesicht der Dichterin, das ihren Stil auszeichnet. Besonders zart und berührend sind ihre Liebesgedichte. Sie sind dadurch geprägt, was den Stil Kalékos grundlegend vom Stil der anderen Vertreter der„Neuen Sachlichkeit“ unterscheidet. Es ist eine feine Sinnlichkeit. Alles, worüber Mascha Kaléko schreibt, geht ihr durchs Herz, sie identifiziert sich fast immer mit ihrem lyrischen Ich. Vielleicht werden dank dieser Sinnlichkeit ihre Verse heute von Liedermacherinnen in Deutschland gesungen. Die Berliner Songwriterin Dota Kehr, die einige ihrer Texte vertont hat, nannte ihr Werk «ein generationsübergreifendes Liedermacherprojekt». Ein schönes Beispiel ist das Gedicht Kleines Liebeslied.Die Liebesgedichte von Mascha Kaléko sind meist voller Melancholie. Das Motiv des Herbstes durchzieht das Gedicht mit dem Titel In den Regen. Aber es gibt auch helle Liebesgedichte, sogar mit ironischer Abtönung. Beispielsweise verschmelzen im Gedicht Alle sieben Jahre das ironische und das lyrische Gesicht des Janus. Die meisten Liebesgedichte sind Maschas zweiten Ehemann, dem Musikwissenschaftler Chemjo Vinaver, gewidmet: Für einen.

Frage: Ist Dir das Lyrische Ich der Dichterin nah?

Antwort:  Ja, manchmal scheint mir, dass in den Gedichten Kalékos die Rede von mir wäre. Es gelingt dieser wundervollen Autorin, die Ängste, Sorgen und Hoffnungen der Menschen genau zu schildern und in wenigen Zeilen auf den Punkt zu bringen. Ihre Texte fangen die kleinen Details des Alltags ein und thematisieren das Auf und Ab der menschlichen Beziehungen. Darum kann sich darin fast jeder wiederfinden.

Nach dem Zweiten Krieg fand Mascha Kaléko daher schnell auch in Deutschland wieder ein Lesepublikum. Ihre Bücher kamen auf die Bestsellerlisten und 1960 sollte sie den Fontane-Preis der Akademie der Künste in Berlin (West) verliehen bekommen. Als sie jedoch erfuhr, dass in der Jury ein ehemaliger SS-Offizier saß, lehnte sie die Nominierung ab, obwohl sie das Geld hätte gut gebrauchen können. Ich bewundere ihren Mut dafür.

Mascha Kaléko versuchte immer wieder ein Gleichgewicht in ihrem Leben zu finden: Gleichgewicht zwischen der äußeren und der inneren Welt, zwischen literarischem Schaffen und Familie, zwischen Ironie und Trauer. 1959 siedelte die Familie nach Israel um, doch eine an Intuition grenzende Schwermut ihrer Texte verband sich hier mit der Vorahnung eines bevorstehenden persönlichen Unglücks. Sie verlor nicht nur ihr Mutterland, sondern 1968 plötzlich ihren 31-jährigen Sohn und 1973 ihren geliebten Ehemann. So nennt Mascha Kaléko ihr Leben einen Tanz auf dem Seil, wie treffend in Seiltänzerin ohne Netz beschrieben wird. Um nicht in den Abgrund zu stürzen, hilft dem lyrischen Ich das Gebet. Sie hat mehrere Gedichte mit diesem Titel geschrieben. So auch Gebet (Herr: unser kleines Leben – ein Inzwischen…). Dabei ist Masha Kalékos Gott innerlich, subjektiv. Er ist eine Brücke, ein Hebel, mit dem sie versucht, ihren Willen zu beeinflussen, um den Wechselfällen des Schicksals standzuhalten, wie das Gedicht Sehnsucht nach dem Anderswo zeigt. In ihrem Leben musste Masha schwierige Belastungsproben überstehen. Aber sie hat ihre philosophische Wahrnehmung der Welt, lyrische Stimmung und Inspiration behalten.

Frage: Danke, liebe Liliia, für den Einblick in das Leben und Werk Mascha Kalékos. Erlaube eine letzte, vielleicht persönliche Frage: welches ist Dein Lieblingsgedicht von Mascha Kaléko?

Antwort: Es ist unmöglich zu sagen, welches Gedicht das Beste ist. Für jeden Leser, jede Leserin wird es ein anderes Gedicht sein. Das erste Gedicht, das ich übersetzt habe, weil ich es sehr mochte, war Mein schönstes Gedicht. Als Übersetzerin gefallen mir auch die Gedichte, deren Übersetzung mir besonders gelungen scheint, wie in Die Zeit steht still.

Vielen Dank, dass Du unsere Herzen und Ohren für diese Dichterin (neu) geöffnet hast. Die Worte auf Ukrainisch und Deutsch werden noch lange in uns nachhallen. Für alle, die die poetischen Worte voller Kraft und Schönheit dieser außergewöhnlichen Frau, weiter kennen lernen, wieder entdecken, nachlesen oder nachhören wollen, haben wir eine Auswahl an deutschsprachiger Literatur und Links zusammengestellt. Dabei sei im Besonderen auf die Arbeiten von Gisela Zoch-Westphal verwiesen, der es gelungen ist, den literarischen Nachlass der Dichterin nach Deutschland zu holen sowie die erste Biographie von Jutta Rosenkranz.

Literatur

Von Mascha Kaléko

  • Verweis auf https://www.maschakaleko.com/veroeffentlichungen 
  • Kaléko, Mascha (2003): Die paar leuchtenden Jahre. Herausgegeben, eingeleitet und mit der Biographie „Aus sechs Leben der Mascha Kaléko“ von Gisela Zoch-Westphal. München: dtv.

Über Mascha Kaléko

  • Benteler, Anne (2019): Sprache im Exil. Mehrsprachigkeit und Übersetzung als literarische Verfahren bei Hilde Domin, Mascha Kaléko und Werner Lansburgh. Stuttgart: Metzler.
  • Menzel, Wolfgang (2006): Mascha Kaléko. In: Wintgens, Hans-Herbert/Oppermann, Gerard (Hrsg.): 1933: Verbrannte Bücher – Verbrannte Autoren. Hildesheim: Universitätsverlag, S. 174-190.
  • Meyer, Julia (2018): `Zwei Seelen wohnen, ach, in mir zur Miete.´ Inszenierungen von Autorschaft im Werk Mascha Kalékos. Dresden: Thelem.
  • Nolte, Andreas (2003): `Mir ist zuweilen so als ob das Herz in mir zerbrach´. Leben und Werk Mascha Kalékos im Spiegel ihrer sprichwörtlichen Dichtung. Frankfurt et al: Lang. 
  • Rosenkranz, Jutta (Hrsg.): Mascha K. Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. München: dtv, 2012.
  • Wellersdorf, Irene Astrid (1982): Vertreibung aus dem `kleinen Glück´. Promotionsschrift an der Technischen Hochschule Aachen.

Hörbücher oder CDs von Liedermacher:innen

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